Das „American Health Magazine“ veröffentlichte im Jahr 2008 die Ergebnisse einer Vergleichsstudie, die wirklich beeindruckend ist:
- Psychoanalyse: 38 % Verbesserung nach 600 Stunden
- Verhaltenstherapie: 72 % Verbesserung nach 22 Stunden
- Hypnosetherapie: 93 % Verbesserung nach 6 Stunden
So liest sich eine auf vielen Internet-Seiten über Hypnose veröffentlichte Studie. Die Darstellung variiert manchmal, die Zahlen bleiben gleich. Immer an guten Forschungsergebnissen zur Wirksamkeit von Hypnosetherapie interessiert, machte ich mich auf die Suche nach dieser Studie.
Was nicht ganz einfach war.
1. Die Quelle: „American Health Magazine“ 2008
Das „American Health Magazine“ war ein US-amerikanisches Magazin zum Ende des 20. Jahrhunderts. Für seine fachlichen Artikel erhielt es sogar einige Auszeichnungen. 1999 erschien jedoch die letzte Ausgabe. Danach wurde die Zeitschrift von Time Warners „Health“ übernommen.
„According to an abstract, Madison Avenue magazine reported in 1986 that American Health had an „upbeat and informative“ tone and boasted of a circulation of 85,000. The last issue of American Health was published in October 1999. Then, its trademark and circulation assets had been acquired by Time Warner’s Health magazine.“
(Quelle: Stand 18.02.2018)
2008 gab es dieses Magazin also nicht mehr. Es gelang mir nicht herauszufinden, wer diese „Quelle“ zuerst verwendete. (Sollte es doch 2008 in einer vergleichbaren Zeitschrift publiziert worden sein, freue ich mich über einen Hinweis!)
Sollten es einfach nur Fakenews sein?
2. Die Quelle: Alfred A. Barrios: Psychotherapy – Theory, Research and Practice.
Einige, wenigere Webseiten geben den ursprünglichen Verfasser an. Dieser war Alfred A. BARRIOS. BARRIOS veröffentliche 1970 eine Meta-Studie mit genau diesen Zahlen. Diese Studie findet sich bspw. noch hier oder hier.
Interessant ist zuerst einmal die Jahreszahl. Im Rahmen der Forschung stammt die Studie aus der Pionier-Zeit der Psychotherapie. Die eigentliche Forschung zu Psychotherapie-Verfahren begann gerade erst.
Es war die Zeit, in der die Verhaltenstherapie ihren Aufschwung hatte. Die ersten systemischen Ansätze entwickelten sich, vor allem durch die Palo Alto-Gruppe. Ebenso verbreitete sich die Gesprächstherapie nach ROGERS. Sogar die Psychoanalyse bewegte sich. Nach der Ich-Psychologie mit Anna FREUD als prominenter Vertreterin und der Objektbeziehungstheorie von Melanie KLEIN, entwickelte sich die Selbstpsychologie und legte damit den Grundstein für ein heutiges, intersubjektives Verständnis.
Und auch die Entwicklungen der Hypnotherapie nach ERICKSON und viele andere Ansätze, bspw. die der Hypnoanalyse (ELMAN, BOYNE), der NLP (BANDLER, GRINDER) oder der Ego-State (WATKINS) begannen gerade erst (vgl. die Geschichte der Hypnosetherapie).
Doch zurück zur Studie.
2. 1. Inhalt der Studie
Das Zitierte liest sich im Original-Artikel so:
„Averaging the above figures, we find that for psychoanalysis we can expect a recovery rate of 38% after approximately 600 sessions. For Wolpian therapy, we can expect a recovery rate of 72% after an average of 22 sessions, and for hypnotherapy we can expect a recovery rate of 93% after an average of 6 sessions.“
„Wolpian therapy“ verweist auf WOLPE. WOLPE war einer der Gründerväter der Verhaltenstherapie. Er forschte insbesondere zur systematischen Desensibilisierung. Um die Wichtigkeit der damals noch jungen Verhaltenstherapie darzustellen, führte WOLPE eine eigene Studie mit etwas über 200 Proband*en durch und veröffentlichte diese.
Es war die allererste, groß angelegte Studie für die Verhaltenstherapie. Sie begründete die Domäne der Verhaltenstherapie in transparenten, an aktuellen und naturwissenschaftlichen Standards orientierten Studien.
Das Design dieser Studien orientiert sich übrigens an den medizinischen und pharmazeutischen Forschungen. Diese Designs beruhen darauf, Effekte bei möglichst vielen zu bewirken und zu messen, bspw. die Linderung depressiver Symptome. Es geht weniger darum, wie z. B. noch in der Psychoanalyse, vom Einzelfall und dessen Symptom auf das dahinter liegende, ganzheitlichere, psychische Muster zu erschließen.
WOLPE verglich seine Studie mit zwei Studien mit je über 500 Proband*en zur damaligen einzigen Konkurrenz, der Psychoanalyse. Die eben erwähnte 600 Stunden im Schnitt dauerten.
Es gibt inzwischen eine Unmenge mehr an verhaltenstherapeutische Studien. Die behavioristischen Verfahren hatten ihre kognitive Wende mit BECK und ELLIS. Später dann mit der sogenannten dritten Welle wurden weitere psychotherapeutische Prinzipien und Methoden übernommen und beforscht, bspw. die Schemata und die Achtsamkeit. Es gibt heute ein deutlich differenzierteres Bild bzgl. Störungsbildern und Effizienz in der Verhaltenstherapie als noch in der WOLPE-Studie.
Die Grossmutter aller verhaltenstherapeutischen Studien, diese Meta-Studie von WOLPE, benutzte nun BARRIOS und fügte Studien zur Hypnose hinzu.
2. 2. Die Hypnose-Studien
Die Zahlen wiederum entnahm BARRIOS aus drei weiteren Studien (RICHARDSON 1963, CHONG TONG MUN 1964 und HUSSAIN 1964). Bei den Studien fällt zuerst auf, dass sie verschiedene Störungsbilder behandelten.
- RICHARDSON beschäftigte sich mit 74 Proband*en bspw. lediglich mit Frigidität. Er benötigte im Durchschnitt 1,53 Stunden zur „Verbesserung“ oder „Heilung“, im Artikel „recovery rate“.
- CHONG TONG MUNS Studie umfasste „108 patients suffering from asthma, insomnia, alcoholism, dysmenorrhea, dermatitis, anxiety state, and impotence“ und benötigte im Durchschnitt 5 Stunden.
- HUSSAINS Studie schließlich umfasste „105 patients suffering from alcoholism, sexual promiscuity, impotence and frigidity, sociopathic personality disturbance, hysterical reactions, behavior disorders of school children, speech disorders, and a number of different psychosomatic illnesses“ und dauerte zwischen 4 – 16 Stunden.
Konkretere Zahlen (zum Beispiel wieviele von den 100 Pat. mit welchem Störungsbild wie lange benötigten) werden nicht angegeben. Anzunehmen sind Unterschiede in der Behandlung einer soziopathischen Persönlichkeitsstörung und psychosomatischen Beschwerden oder etwa Sprachstörungen (HUSSAIN).
Auch ist die Frage zu klären, wie die 93% der „recovery rate“ und deren Nachhaltigkeit bestimmt wird. Reicht zur Bestimmung des Erfolges bspw. bei alcoholism (also Alkohol-Abhängigkeit) die nächste Woche? Das nächste halbe Jahr? Zahlen diesbezüglich finden sich nicht.
2. 3. Versuch einer Kritik
Aus einer so geringen Menge an untersuchten Patient*en belastbare Zahlen oder gar Statistiken zu bekommen ist heute schwieriger. Wenn aus MUNS und HUSSAINS Studien die Pat. bspw. gleichmäßig auf die angegebenen Störungsbilder aufgeteilt werden, sind es nur etwa 15-20 Pat. pro Störungsbild.
Auffällig ist auch, dass klassische Themen, für die Hypnosepraxen heute bekannt sind, wie die Rauchentwöhnung, die Gewichtsreduktion oder die Behandlung von Phobien scheinbar nicht beforscht wurden.
Über die Art der verwendeten Hypnotherapie finden sich immerhin Angaben. Jedoch sind diese, nicht überraschend, in jeder der drei Studie verschieden. Es gibt keinen einheitlich beschriebenen Prozess. Und dennoch rechnete BARRIOS diese Zahlen grosszügig zusammen.
Die verhaltenstherapeutische und die analytischen Studien werden gar nicht mehr ausführlich beschrieben. In einem Nebensatz wird erwähnt, dass alle neurotischen Störungen inbegriffen waren.
Dabei scheint offensichtlich, dass sich die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenien, schweren Depressionen, Essstörungen oder anderen psychischen Störungen mit vielen Komorbiditäten von bspw. der Behandlung der Frigidität unterscheidet. Wirkliche Vergleichsstudien, bspw. 1/3 Hypnotherapie, 1/3 Verhaltenstherapie und 1/3 psychodynamische Verfahren sind durchaus spannend und dringend notwendig.
Auch wird nicht beachtet, dass bspw. die Psychoanalyse nicht nur das Symptom bearbeitet. Sie vermutet in jedem Menschen eine oft unbewusste, psychische Struktur. In dieser stellt das Symptom eine Fixierung dar. Das Verschwinden des Symptomes ohne das Lösen der inneren Fixierung, kann nach psychodynamischen Verständnis, lediglich zu einer Verschiebung führen.
Festzuhalten ist: Es ist kein aufeinander abgestimmtes Untersuchungsdesign erkennbar. Es wird nicht einmal ein einheitlicher Massstab zur Bestimmung der „recovery rate“ vorgelegt.
Es ist mehr als fraglich, ob sich diese Studien überhaupt vergleichen lassen.
3. Aktuellere Daten zur Psychotherapie
In der heutigen Forschung und klinischen Praxis sind diese Zahlen und in einer solchen Menge nicht möglich. Gerade mit der Tiefenpsychologie sind auch in den psychodynamischen Verfahren deutlich kürzere Therapien die Regel und nicht die Ausnahme.
Die Relevanz der Psychoanalyse wird in der Statistik-Auswertung der Bundespsychotherapeutenkammer 2012 mit lediglich 2,4% (Tendenz weiter sinkend) aller bei den Krankenkassen beantragten Psychotherapien für Erwachsene angegeben. Die maximal von den Kassen genehmigte Länge einer solchen Psychoanalyse beträgt 300 h. Die beiden Verfahren, mit denen sich die Hypnosetherapie heute vergleichen muss, sind die der Kognitiven Verhaltenstherapie (50,2%) und die tiefenpsychologischen Verfahren (44,7%) (Quelle).
Die durchschnittliche Dauer der Richtlinien-Therapien wurde 2010 wie folgt angegeben:
Die Anzahl der durchgeführten Sitzungen in einer ambulanten Psychotherapie betrug im Median ca. 40 Sitzungen und im Mittel 48 bis 50 Sitzungen angegeben (Quelle).
Ebenso gibt es in Deutschland inzwischen den Wissenschaftlichen Beirat für Psychotherapie. Dieser bewertet die Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit der psychotherapeutischen Verfahren. Es scheint unwahrscheinlich, dass auch nur eine der sechs von BARRIOS verwendeten Studien vom Beirat angenommen werden würde. Wenn, dann am ehesten die von WOLPE.
PFAMMATTER et. al. zeigt hier einige der aktuellen Probleme beim Vergleich von Psychotherapie-Verfahren auf. Seit GRAWE wird auch mehr auf eine integrative Psychotherapie geschaut. Dies ist ein Versuch, die Grabenkämpfe zwischen den unterschiedlichen Verfahren zu beenden. Nebenbei wird es damit möglich, Hypnotherapie als eigenes Psychotherapieverfahren zu beschreiben. Im Artikel Hypnose als Technik zeige ich auf, wie die Richtlinien-Verfahren bereits durchgängig mit hypnotischen Methoden arbeiten. Aufgrund der historischen Entwicklung finden sich übrigens vor allem zu den psychodynamischen Verfahren viele Gemeinsamkeiten.
4. Fazit
Natürlich müssen mit Hypnose arbeitende Praxen ihre wichtige Arbeit bewerben.
Und eingangs erwähnte Statistik bietet sich auf den ersten Blick an. Nicht umsonst wird sie so oft zitiert. Insbesondere in Deutschland müssen Heilberufene aber auch auf das Heilmittelwerbegesetz und mit allen Anderen das Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb beachten:
Unzulässig ist eine irreführende Werbung. Eine Irreführung liegt insbesondere dann vor,
- 1. wenn […] Verfahren, Behandlungen, […] eine therapeutische Wirksamkeit oder Wirkungen beigelegt werden, die sie nicht haben, […]
- 3. wenn unwahre oder zur Täuschung geeignete Angaben
- a) […] über die Art und Weise der Verfahren oder Behandlungen […] gemacht werden.
In dem eingangs erwähnten Zitat entsteht der Eindruck, als ob die Hypnotherapie dank aktueller Studien ein neues und besonders effizientes Verfahren ist. Dagegen wirkt vor allem die Psychoanalyse aber auch die Verhaltenstherapie wirtschaftlich als auch mit Blick auf die Effizienz unhaltbar. Es entsteht sogar der Eindruck, dass Psychoanalysen 600 Stunden dauern und nur 38% Symptom-Verbesserung bringen. Und dass alle Hypnosetherapien 93% „Erfolg“ haben, womit wir schon sehr nahe an einem Heilversprechen sind.
Wenn dies so stimmt, kann das ja auch gemacht werden. Doch warum werden dann keine aktuellen und wissenschaftlich validen Studien zitiert?
Die Antwort ist einfach, es gibt diese (noch) nicht. Zumindest nicht mit solchen eindrucksvollen Zahlen. Psychotherapie-Forschung ist äußerst aufwendig. Die Forschungen müssen heute aufgeschlüsselt werden nach Störungsbildern und der jeweiligen Effizienz. Im direkten Vergleich mit anderen Verfahren benötigt es Kontrollgruppen mit gut ausgebildeten Therapeut*en. Und es hilft die Überprüfung der Nachhaltigkeit in (Langzeit-)Katamnesen, also Überprüfungen mehre Monate bis Jahre nach der Therapie.
5. Forschungen zur Hypnose
Wie erfolgreich die Wirksamkeit von Hypnose beforscht und dargestellt werden kann, zeigt REVENSTORF hier. Mit dessen Arbeiten ist es gelungen, in Deutschland die wissenschaftliche Anerkennung zu bekommen. Achtet beim Lesen sowohl auf die Fallzahl als auch auf die festgestellte Effizienz im Vergleich. Die Unterschiede sind auch hier zu Gunsten der Hypnosetherapie vorhanden.
Und selbst bei diesem Studien wurde nur die Hypnotherapie nach Erickson beforscht. Was damit genau gemeint ist, ist noch nirgendwo vereinheitlicht (vgl. Hypnose als Ausbildung). Vielleicht würde die Forschung zur Hypnoanalyse, insbesondere mit einem strukturierten und zertifizierten Prozess wie bei OMNI, die Zahlen noch einmal anders aussehen lassen.
Wünschenswert ist, dass der Wert der Hypnotherapie ohne die Abwertung der etablierten Verfahren dargestellt wird. Dies kann nur dazu beitragen, selbstbewusst weiter einen Schritt aus deren Schatten zu treten.